Sozialer Druck bringt Menschen immer früher in Pflege. Der BKK-Landesverband NORDWEST plädiert für einen ganzheitlichen Lösungsansatz und findet dafür Mitstreiter unter den Experten.
Immer mehr pflegebedürftige Menschen oder deren Angehörige sehen sich in der Situation, einen Pflegegrad zu beantragen. Die Medizinischen Dienste der einzelnen Bundesländer stehen einer dramatisch steigenden Anzahl von Anträgen gegenüber, so auch in Hamburg und Schleswig-Holstein.
Laut aktueller Pflegestatistik gibt es in Hamburg 90.288 pflegebedürftige Menschen. Davon leben 15.530 in vollstationären Pflegeeinrichtungen. Die meisten Menschen mit Pflegebedarf werden von pflegenden Angehörigen und Ehrenamtlichen unterstützt. In den letzten Jahren stiegen die Anträge auf Pflegebegutachtung an. Der Vergleich quartalsweiser Auftragseingänge der Pflegeversicherung (ausschließlich Pflegegrade) in Hamburg und Schleswig-Holstein zeigt: Zwar weist die Statistik im Jahr 2022 ein kleines Minus von 1,6 Prozent auf. Dafür sind die Anträge im letzten Jahr um 16 Prozent gestiegen. Von 2018 bis 2023 ergibt sich eine durchschnittliche jährliche Steigerungsrate von 8,5 Prozent für Hamburg und 9,5 Prozent für Schleswig-Holstein.
Die Zahlen der Pflegeanträge in Hamburg und Schleswig-Holstein spiegeln sich auch im bundesweiten Trend wieder.
Offensichtlich hat diese Entwicklung aber weniger damit zu tun, dass mittlerweile jede fünfte Person in Deutschland älter als 66 Jahre ist. „Der demografische Wandel allein reicht als Erklärung nicht aus. Vielmehr spielen soziale Faktoren eine wesentliche Rolle“, erklärt Dr. Dirk Janssen, Vorstand des BKK-Landesverbands NORDWEST. „Sozialer Druck bringt Menschen immer früher in die Pflege. Die gestiegenen Inflationsraten und Krisen der letzten Jahre haben einen zusätzlichen Schub bei den Anträgen bewirkt.“
Neben bestehenden Forderungen wie der Komplettdigitalisierung des Antragverfahrens, der Verschlankung der Gutachten und dem Verzicht auf Wiederholungsbegutachtungen plädiert der BKK-Landesverband NORDWEST für eine systemische Veränderung. Die Menschen müssten ganzheitlicher beraten werden, etwa über mögliche Ansprüche auf Wohngeld, so Janssen. Hier kämen die Kommunen mit ins Spiel. Denkbar wäre ein kommunales Case-Management aufzusetzen. Über dieses könnten Case-Manager:innen in Zusammenarbeit mit Medizinischen Diensten oder den Krankenkassen entsprechende Beratungen als Ganzes auf den Weg bringen.
Der BKK-Landesverband NORDWEST spricht sich für eine systematische Ausweitung um die anderen Ersatzleistungen und die Beratung aus. Diese dürfen in der Beratungslandschaft nicht aufgesplittert jede für sich stehen. „Es braucht jemanden, der über den Tellerrand schaut und nicht nur jeweils zu Wohngeld, Pflegeversicherung, Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung berät, sondern die Menschen mit ihren Bedarfen ganzheitlich im Blick hat. Denkbar ist auch eine Steuerung über die Hausärzte“, erklärt Janssen.
Ähnliches kann sich auch Dr. Martin Schünemann, Abteilungsleiter Pflegeversicherung beim MD-Nord, vorstellen. Die Beratung zu den Sozialleistungen müsse so gestaltet werden, dass nicht die Anträge auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung Ersatzleistungen kompensierten. „Bei offensichtlicher Erfolglosigkeit der Pflegeanträge muss auf den aufwändigen Hausbesuch des Medizinischen Dienstes verzichtet werden können“, so Dr. Schünemann. Einig sind sich alle darin, dass der häufig in der Öffentlichkeit kolportierte Generalverdacht, Medizinische Dienste oder Pflegekassen wollten Leistungserbringung verhindern, endlich ausgeräumt werden muss.
Weitere Hintergrundinformationen:
· Bevölkerung: in Hamburg: 1,9 Millionen
· Einwohner: +6 Prozent Wachstum bis 2050
· Durchschnittsalter: 42 Jahre
· Migrationshintergrund: 38 Prozent
Quelle: Bund – Länder Demografie Portal
Laut Prognose des Statistischen Bundesamtes vom März 2023 könnte die Anzahl Pflegebedürftiger in Hamburg bis zum Jahr 2055 auf rund 132.000 ansteigen.
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